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Schulausflug „in den größten Braunkohlentagebau der Welt“

Mit dem Übergangsschulgesetz von 1922 wurden die sächsischen Volksschulen verpflichtet, mit allen Klassen jährlich zwei Wandertage durchzuführen. Für die höheren Klassen waren Ausflüge vorgesehen, die an schulische Themen aus den Fächern Geographie, Biologie und Geschichte anknüpften. Die im Verlag „von Kommerstädt & Schobloch“ in Dresden-Wachwitz herausgegebenen „Sächsischen Wanderbücher“ gaben dafür vielfache Anregungen. Der unserer Region gewidmete Band „Rund um Leipzig“ wurde von Dr. Kurt Krause bearbeitet.

Dr. Krause war als Gymnasiallehrer an der Leipziger Nikolaischule beschäftigt. Er hatte bereits 1909 ein schmales Bändchen unter dem Titel „Leipziger Lehrerausflüge“ verfasst. „Rund um Leipzig“ erschien 1924. Der Untertitel des Bandes lautete „Ein Führer zur Kenntnis der Heimat für alle Natur- und Wanderfreunde und für die Schule. Bearbeitet von Lehrern der Erdkunde. Herausgegeben von Dr. Kurt Krause“.

Gleich mehrere Ausflugsempfehlungen wandten sich dem „Braunkohlenrevier am Südrande der Leipziger Tieflandsbucht“ zu. Der große Tagebau, der sich damals westlich von Borna in Richtung Lobstädt erstreckte, war ein erstes Ziel, ein zweites die später abgetragene Görnitzer Hochkippe. Weitere Wanderungen führten zu den Braunkohlengruben um Bad Lausick. Schließlich galt ein Ausflug auch dem damals jüngsten Neuaufschluss eines Tagebaues. Das entsprechende Kapitel trägt den Titel „Das staatliche Braunkohlenwerk bei Böhlen“.
In Gestalt dieser Exkursionsbeschreibung verfügen wir über ein authentisches Zeugnis, wie es damals im und um den Böhlener Tagebau aussah und welchen Eindruck die Errichtung der Werksanlagen bei Menschen hervorrief, die nicht unmittelbar von der Kohlenförderung betroffen bzw. mit ihr verbunden waren.
„Fährt man von Leipzig nach Kieritzsch“, schrieb Dr. Kurt Krause, „so fallen dem aufmerksamen Reisenden bei Böhlen zur Rechten in der Fahrtrichtung große Neuanlagen von Bahnen auf, Häuser entstehen hier schneller als sonst irgendwo, Felder verschwinden, Erdwälle türmen sich auf und wachsen immer höher. Wir fahren am größten Braunkohlentagebau der Welt entlang.“

Dem Bergbaugebiet näherte sich Krause vom Bahnhof her. Er unterquerte die Bahnlinie und wandte sich an der nach Zeschwitz führenden Straße nach Süden. „Wir wandern“, schreibt er, „der Bahn entlang in Richtung auf große Anlagen, die schon in der Ferne sichtbar werden.“

Welche Baulichkeiten fand er damals bereits vor? – Die ersten waren im Januar 1921 entstanden. Damals wurde eine ehemalige Reithalle aufgestellt und als Lager verwendet. Zudem kam ein fahrbarer Bockkran von 15 Tausend Kilogramm Tragkraft in Betrieb. Als Dr. Krause für sein Buch recherchierte, hatte bereits der Bau der Brikettfabrik I mit Trockner-, Kühl- und Pressenhaus begonnen. Vom Kraftwerk war noch nichts zu sehen. „Später soll ein großes Elektrizitätswerk gebaut werden als Kraftstation Westsachsen“, schrieb er.
Angesichts dessen waren es weniger die Bauten, die den Betrachter beeindruckten, als vielmehr die menschlichen Eingriffe ins vorgefundene Landschaftsbild. „Dass durch die umfangreichen Ausschachtungen das Landschaftsbild ein anderes Gepräge erhält, versteht sich von selbst. Wer zwei Jahre nicht in die Gegend gekommen ist, kennt sie nicht wieder“, konstatiert er. „Die Karten stimmen nicht mehr. Die Wege sind verlegt, Schienenstränge durchziehen die Landschaft, elektrische Masten ragen überall empor.“

Mit einem Abraumzug lässt sich Dr. Krause auf die Hochkippe fahren. „Langsam krächzt er aus der Tiefe heraus den Abraum in offenen Loren nach Süden in Richtung auf Kieritzsch fahrend. Schon hat die Kippe eine Höhe von 16 m erreicht; im Laufe der Zeit soll sie auf 30 m anwachsen. Damit wird sie zu einer imposanten Erhebung in Leipzigs Umgebung. Schon jetzt ist der Ausblick von der Höhe recht lohnend.“

Wirklich beeindruckt ist er allerdings von der Verspülung der Erdmassen auf der Hochkippe. „Aus dem Abbaufelde muß das Grundwasser abgeleitet werden, um eine sichere Arbeit zu gewährleisten. Große Rohrleitungen bringen es auf die Kippe. Hier benutzt man dasselbe Wasser, um durch seine Wucht die hier angeschütteten Erdmassen fortzuführen und zu verschlämmen. Rings um ein gewaltiges Becken laufen die Abraumzüge, 20 bis 30 Wagen meist, auf 30 bis 40 km langen Gleisanlagen, bedient von 11 Dampf- und 16 elektrischen Lokomotiven, um in größter Geschwindigkeit entladen zu werden. Man ist erstaunt über die Errungenschaften der Technik. Ein Hebeldruck entleert die Wagen im Nu, die Wucht des Wassers reißt die Erdmassen ebenso schnell weg. Kaum rasch genug kann das Auge dem Kampf des flüssigen Elements mit dem festen folgen. Schlammströme, Schichtfluten, Deltabildungen, Talentstehen und Talvergehen; diese und zahlreiche andere Bilder entrollen sich filmartig vor dem Beschauer.“

Die geradewegs euphorische Beschreibung Kurt Krauses mündet in eine Apotheose menschlicher Schöpferkraft. „Hier“, im Braunkohlenwerk bei Böhlen, könne man, so seine Ansicht „fürwahr den Menschen als Schöpfer der Kulturlandschaft an Ort und Stelle beobachten.“

Zwar räumt auch Dr. Krause ein, dass Verluste unvermeidlich seien: Er erwähnt „das dem Verfall geweihte Harthwaldland“, spricht über „das Dorf Zeschwitz“ als „erste menschliche Siedlung, die von der Bildfläche verschwinden wird“, und äußert seine Zweifel daran, ob die Großstadt Leipzig „in Hinsicht auf die Volksgesundheit“ Nutzen haben werde. Doch dominiert bei ihm eine positive Haltung zum großflächigen Braunkohlenabbau über Tage.

Dies entsprach der damals dominierenden öffentlichen Meinung. Sie wurde in den 20er und 30er Jahren keineswegs von den kritischen und warnenden Stimmen beherrscht. Viel mehr zeigte sich die Mehrheit tief beeindruckt von den damals beispiellosen Dimensionen der landschaftlichen Veränderungen und den technisch-technologischen Leistungen. Die Gründe dafür waren nicht nur im seinerzeit noch weitgehend unkritischen Verhältnis zum wissenschaftlich-technischen Fortschritt und zur Großindustrie zu suchen. Nach der tiefen Kränkung, die der Nationalstolz vieler Deutscher durch die Versailler Verträge hinnehmen musste, bewies der Aufbau derartiger Industrieanlagen, wozu man hierzulande imstande war. Ganz in diesem Sinne schrieb Dr. Kurt Krause: „In Deutschlands Braunkohlenfeldern liegt die Zukunft unserer Industrie und zum größten Teil unserer gesamten Wirtschaft, nachdem uns im Osten und Westen die wertvollen Steinkohlenlager genommen oder der eigenen Ausbeutung entzogen sind. So ist es verständlich, wenn auf die Böhlener Braunkohlen gerade für das mitteldeutscheIndustriegebiet besondere Hoffnung gesetzt wird.“

Geschrieben von Dr. Hans-Jürgen Ketzer (2004)